“Ausweitung der Kampfzone” von Michel Houellebecq ist zweifellos ein Buch, das vor Nihilismus und Zynismus nur so trieft. Trotzdem – oder wahrscheinlich gerade deshalb – beschreibt es viele grausame Wahrheiten.
Houellebecq vermag den Geisteszustand apathischer Hoffnungslosigkeit und Anhedonie wie kein Zweiter zu beschreiben:
“Die Schwierigkeit ist, daß es nicht genügt, wenn Sie genau den Regeln entsprechend leben. Es gelingt Ihnen ja (wenn auch oft nur ganz knapp, aber alles in allem schaffen Sie es doch), den Regeln entsprechend zu leben. Ihre Steuererklärung ist in Ordnung. Die Rechnungen werden pünktlich bezahlt. Sie gehen nie ohne Personalausweis aus dem Haus (nicht zu vergessen: das kleine Etui für die Scheckkarte…).
Trotzdem haben Sie keine Freunde.
Die Regeln sind komplex und vielfältig. Außerhalb der Arbeitsstunden sind da die Einkäufe, die Sie wohl oder übel erledigen müssen, die Bargeldautomaten, von denen Sie Geld abheben müssen (und vor denen Sie oft Schlange stehen). Vor allem sind da die verschiedenen Zahlungen, die Sie den Institutionen zukommen lassen müssen, die die verschiedenen Aspekte Ihres Lebens verwalten. Zu allem Überfluß können Sie auch noch krank werden, was zusätzliche Kosten und Formalitäten mit sich bringt. Dennoch bleibt ein Stück Freizeit übrig. Was tun? Wie sie nützen? Vielleicht sich den Mitmenschen widmen? Aber im Grunde interessieren die Mitmenschen Sie kaum. Platten hören? Das war einmal eine Lösung, aber im Lauf der Jahre mußten Sie einsehen, daß Musik Sie von Mal zu Mal weniger berührt.
Basteln, im weitesten Sinne, könnte ein Weg sein. Aber in Wahrheit kann nichts die immer häufigere Wiederkehr jener Augenblicke verhindern, in denen Ihre absolute Einsamkeit, das Gefühl einer universellen Leere und die Ahnung, daß Ihre Existenz auf ein schmerzhaftes und endgültiges Desaster zuläuft, Sie in einen Zustand echten Leidens stürzen.
Trotzdem haben Sie immer noch keine Lust zu sterben.”
Besonders genial ist seine Technik, die Ernsthaftigkeit bedeutungsschwerer, existentieller Themen (“Gefühl einer universellen Leere”, “absolute Einsamkeit”) durch vorrangehende, lakonische formulierte Sätze trivialen Inhalts (“Basteln könnte ein Weg sein”) zu hintertreiben, was den Nihilismus des Romans umso mehr verstärkt.
Houellebecq vergleicht die sexuelle Revolution mit dem Kapitalismus und betont, dass beide negative Konsequenzen hatten:
“Der Sex, sagte ich mir, stellt in unserer Gesellschaft eindeutig ein zweites Differenzierungssystem dar, das vom Geld völlig unabhängig ist; und es funktioniert auf mindestens ebenso erbarmungslose Weise. Auch die Wirkungen dieser beiden Systeme sind genau gleichartig. Wie der Wirtschaftsliberalismus – und aus analogen Gründen – erzeugt der sexuelle Liberalismus Phänomene absoluter Pauperisierung. Manche haben täglich Geschlechtsverkehr; andere fünf oder sechs Mal in ihrem Leben, oder überhaupt nie. Manche treiben es mit hundert Frauen, andere mit keiner. Das nennt man das »Marktgesetz«. In einem Wirtschaftssystem, in dem Entlassungen verboten sind, findet ein jeder recht oder schlecht seinen Platz. In einem sexuellen System, in dem Ehebruch verboten ist, findet jeder recht oder schlecht seinen Bettgenossen. In einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige wenige beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt. Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen.”
Auf die Nachteile des Kapitalismus zu verweisen, ist in den meisten Kreisen kein Problem, ja zeugt von Fortschrittlichkeit und Mitgefühl. Doch sobald man versucht, die Nachteile der sexuellen Revolution zu erwähnen, wird man entweder als lustfeindlicher Puritaner oder als sexueller Versager angesehen. Oder beides. Was ja meist auch zutrifft.
“Ein seltenes, künstliches und spätes Phänomen, blüht die Liebe nur unter besonderen geistigen Voraussetzungen, die selten zusammentreffen und in jeder Hinsicht der Sittenfreiheit, die das moderne Zeitalter charakterisiert, entgegengesetzt sind. Véronique hatte zu viele Diskotheken und Liebhaber kennengelernt. Eine solche Lebensweise läßt das menschliche Wesen verarmen, sie fügt ihm Schäden zu, die manchmal schwerwiegend und stets irreparabel sind. Die Liebe als Unschuld und Fähigkeit zur Illusion, als Gabe, die Gesamtheit des anderen Geschlechts auf ein einziges geliebtes Wesen zu beziehen, widersteht selten einem Jahr sexueller Herumtreiberei, niemals aber zwei. In Wirklichkeit zerrütten und zerstören die zahllosen, während der Zeit des Heranwach- sens angehäuften sexuellen Erfahrungen jede Möglichkeit gefühlsmäßiger, romantischer Projektion. Nach und nach, tatsächlich aber sehr rasch, wird man so liebesfähig wie ein altes Wischtuch. Man führt dann unvermeidlich ein Wischtuchleben; mit fortschreitendem Alter wird man weniger verführerisch, und in der Folge verbittert. Man ist eifersüchtig auf die Jungen und haßt sie daher. Dieser Haß, der uneingestanden bleiben muß, wird bösartig und immer brennender; schließlich mildert er sich und verlöscht, wie alles verlöscht. Es bleiben nur noch Verbitterung und Ekel, Krankheit und Warten auf den Tod.”
Sicherlich ist ein Zurück zu den “guten alten Zeiten” auch keine Lösung. Die Vorteile der sexuellen Revolution überwiegen wahrscheinlich deren Nachteile; wie dies ja auch beim Kapitalismus der Fall ist.
Fazit? Das Leben ist – nach wie vor – hart. Daran wird sich ohne radikale Maßnahmen auch nicht viel ändern.